Was für ein Erbe! – Reutlinger Nachrichten vom 26.04.14

Er war ein Schaffer und Sammler, ein Tüftler und Tatendrängender. In der Gönninger Straße 112 lebt Peter Kramers Erbe weiter
dank seiner Tochter Sabine und der Agentur für unschätzbare Werte.

Seite an Seite sitzen Sabine Kramer und Harald Sickinger auf dem abgewetzten beige-braunen Sofa und lächeln – an einem ausgestopften Kuhkopf vorbei – hinunter auf den sonnenbeschienenen Hof des Nachbarhauses. „Da ist es gestanden und sollte auf den Sperrmüll“, sagt sie. „Und Dein Vater hat es sich ins Haus geholt“, erinnert sich er. „Es“ – das ist das Sofa, von dem beide gerade die Beine baumeln lassen. Allzu sehr bewegen dürfen sie sich dabei nicht. Denn das Sitzmöbel steht nicht auf dem Boden, sondern liegt auf einem Treppengeländer auf. Ein wackliges Konstrukt. Eines mit Charmefaktor. Eines, das Sabine Kramer geerbt hat – wie so vieles anderes.

„Der Tod meines Vater kam so plötzlich für mich. Es hat mir auch deshalb davor gegraut, dass er stirbt, weil ich nicht wusste, was ich mit all dem hier anfangen soll“, sagt Peter Kramers Tochter und schaut sich um in der Scheune und dem Wohnhaus, das er hinterlassen hat. Gefüllt mit alten Dingen, den Zeugnissen seiner Sammelleidenschaft, dem Kuhkopf und dem Sofa, dem Traktor und den Skiern aus den 1930er Jahren, dem Schulranzen aus der Vorkriegszeit und dem viele Jahrzehnte alten Ofen. Hunderte, ja wahrscheinlich sogar tausende solcher Relikte hat die Tochter nach dem Tod des Vaters im Jahr 2010 sichten müssen.

Das größte Problem: Peter Kramer hatte sich dafür keine weitere Verwendung ausgedacht. „Es gab kein Testament. Es gab aber auch keine Erwartungen“, blickt Sabine Kramer zurück. Eines aber war klar für sie: Aus dem Gebäude und dem Garten, in die ihr Vater soviel Energie und Zeit gesteckt hatte, musste sie etwas Eigenes entwickeln. Schließlich hatte sich das Haus schon seit Peter Kramer es 1993 gekauft hatte immer weiter verändert. Das Innenleben mit dem ganzen Sammelsurium war einem ständigen Entwicklungprozess unterworfen. Kramer, bis zu seinem Ruhestand Hochdruckrohrschlosser, hat zusammengeschweißt und verbogen, gestapelt und aneinandergereiht.

„Das alles hier mache ich nur aus Gaudi“, hat der Pfullinger – vielen noch heute als Schönbergturm-Wirt in Erinnerung – einmal gesagt. Eine Gaudi – das war das Erbe für die Tochter nicht. Sie nimmt es ernst. Sie will es mit Leben füllen, den Prozess der permanenten Veränderung weiterführen. Unterstützt wird sie dabei von ihrem Lebensgefährten Harald Sickinger.

Schritt für Schritt hat sich das Paar vorgetastet. „Wir haben mit Pfullingern über meinen Vater geredet, haben Umfragen und einen Film gemacht“, erzählen sie. Dann haben sie das Schaffwerk gegründet – auch um Antworten auf Fragen zu erhalten wie: Ist das Kunst? Was kann das sein? Was war das und was wird daraus? Entstanden ist daraus ein „Kulturbetrieb für andere Perspektiven“. Eine bewusste – auch filmische – Inszenierung des Weiterentwicklungsprozesses, wie Sickinger es nennt, begleitet all dies.

Führungen, Auftritte von Künstlern im Garten, Kaffeehaus-Betrieb – an vielen Sonntagen war das Schaffwerk im vergangen Jahr geöffnet. Immer die Attraktion: Das Gebäude selbst, die Ansammlung von Dingen, die in vielen Erinnerungen, aber auch Fragen, bisweilen gar Kritik hervorrufen. Über 500 Besucher hat der Probebetrieb im vergangenen Jahr gebracht – und eine Förderung durch das Biosphärengebiet Schwäbische Alb.

Doch Kramer und Sickinger sind damit noch nicht am Ende ihres Weges angekommen. Sie wollen das Schaffwerk behindertengerecht umbauen, den Sanitärtrakt erweitern, Seminarräume gestalten, ein Projektbüro einrichten, eine Wirtschaft eröffnen, sich als Kulturbetrieb etablieren, Veranstaltungen anbieten und all die weiteren baulichen Voraussetzungen dafür schaffen.

Nach einer Einführungsphase in den Jahren 2014 und 2015, in der das Schaffwerk nur für besondere Veranstaltungen und Seminare geöffnet sein wird, soll 2016 die Etablierungsphase beginnen. Um all das zu ermöglichen, haben Kramer und Sickinger zusammen mit Experten eine 20-seitige Konzeption erarbeitet und die „Agentur für unschätzbare Werte“ gegründet. Zehn Monate hat es gedauert, bis die Agentur als gemeinnützige Unternehmensgesellschaft ins Handelsregister eingetragen werden konnte. Eine Rechtsanwältin stand dem Paar zur Seite. Und bevor das Amtsgericht die Eintragung der Agentur genehmigte, musste die IHK noch ein Gutachten beisteuern.

Sickinger, der Community Development studiert hat, gerät – was naheliegend ist – gern ins Philosophieren, wenn er von der Agentur spricht. Was für einen Wert hat etwas? Wie kann bislang wenig Geschätztes mehr Wertschätzung erfahren? Wie kann man unschätzbare Werte sichtbar machen? Fragen, die Sickinger umtreiben.

Was Peter Kramer in Haus und Garten geschaffen hat – auch das fasziniert Sickinger. Weil ja letztlich alle Menschen Kulturproduzierende sind. In Kramers Fall belegt das allein schon die Tatsache, dass er aus einem Metall-Korpus und zwei Teppichklopfern einen „Eismann“ konstruiert hat und dass er mitten in den Garten hinein eine „Drecklach“ gegraben hat. „Weil eine solche zu jedem Haus gehört“. Die, so Sickinger, habe zwar keinen Wert an sich, sei aber Teil des Lebens.

Um die Idee vom „Kulturbetrieb für andere Perspektiven“ nun langfristig in die Tat umsetzten zu können, brauchen Kramer und Sickinger freilich Helfer. Handwerker, die beim Umbau mitanpacken, Leute, die Geld spenden, Menschen, die das Schaffwerk besuchen und sich Gedanken machen, miteinander ins Gespräch kommen – auch über das Erbe, das Peter Kramer der Nachwelt hinterlassen hat.

Wenn er geahnt hätte, wie lebendig sein Haus auch nach seinem Tod noch sein wird, wie es praktisch zum interaktiven Museum und Ort des gesellschaftlichen Miteinanders wird – vielleicht hätte er anno 2005 nicht gesagt, dass er das alles nur aus Gaudi macht. Andererseits: Hätte er sich selbst zu ernst genommen, wäre die Leichtigkeit dessen, was er erwerkelt hat, dahin. Kein ausgestopfter Kuhkopf. Kein Sofa auf dem Treppengeländer. Kein Schaffwerk, keine unschätzbaren Werte.

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Das Schaffwerk

Das Schaffwerk in der Gönninger Straße 112 ist ein altes Bauernhaus, das als lebendiges Gesamtkunstwerk und inklusiver Kulturbetrieb von Sabine Kramer betrieben wird. Sie entwickelt hier das Erbe ihres 2010 verstorbenen Vaters Peter weiter.

Das Schaffwerk in der Gönninger Straße 112 ist ein altes Bauernhaus, das als lebendiges Gesamtkunstwerk und inklusiver Kulturbetrieb von Sabine Kramer betrieben wird. Sie entwickelt hier das Erbe ihres 2010 verstorbenen Vaters Peter weiter. 2013 fanden im Schaffwerk vor allem an den Sonntagen viele Veranstaltungen statt. Über 500 Besucher kamen zu Kulturnachmittagen und Café-Betrieb. Es war eine Art Probelauf für das, was Kramer noch plant. Aber 2016 soll das Schaffwerk, das vom Biosphärengebiet Schwäbische Alb gefördert wird, in den Vollbetrieb gehen. Bis dahin allerdings braucht Kramer für den Umbau noch Helfer und finanzielle Unterstützung. Wer spenden möchte, kann das unter dem Stichwort „Agentur für unschätzbare Werte“ auf folgendes Konto tun. IBAN: DE 2743060967 7027 635 200, BIC: GENO DE M 1 GLS. Wer das Schaffwerk tatkräftig unterstützen möchte, kann sich aber auch unter Telefon: 0172-4758954 bei Sabine Kramer melden.

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Die Agentur

Die Agentur für unschätzbare Werte ist unter dem Dach des Schaffwerks zu finden. Sie wurde 2013 als gemeinnützige Unternehmensgesellschaft gegründet, federführend ist hier Harald Sickinger.

 

Die Agentur für unschätzbare Werte ist unter dem Dach des Schaffwerks zu finden. Sie wurde 2013 als gemeinnützige Unternehmensgesellschaft gegründet, federführend ist hier Harald Sickinger. Zweck der Agentur ist es, die Wertschätzung von unschätzbaren Werten zu fördern und damit die sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltige Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens zu unterstützen, beschreibt die Agentur sich selbst. Unter anderem dient sie dazu, den Aufbau des Kulturbetriebs im Schaffwerk zu steuern und zu finanzieren.